Seit 15 Jahren existiert das Psychosoziale Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt (PSZ). Zum gestrigen Jubiläumsfachtag kamen über 60 in der sozialen Arbeit mit Geflüchteten Aktive in die Franckeschen Stiftungen und zogen Bilanz.
Im August 2006 hatte das PSZ mit den zwei Psychologinnen Nadine Sandring und Manuela Mosch in den Franckeschen Stiftungen begonnen, spezialisiert auf psychisch erkrankte Menschen mit belastenden Erfahrungen durch Krieg, Folter, Verfolgung und Flucht – 25 Personen konnten zunächst behandelt werden. Heute werden im Schnitt 400 Menschen im Jahr, kultursensibel und spezialisiert auf Erkrankungen wie die Posttraumatische Belastungsstörung und Depression, versorgt. Häufig treten mehrere Störungsbilder nebeneinander auf und auch körperliche Folgeerkrankungen sind weit verbreitet. Das PSZ arbeitet dabei mit übersetzenden Ehrenamtlichen und Honorarkräften, die ebenfalls dauerhaft begleitet und qualifiziert werden. Damit ist es seit 15 Jahren das einzige Angebot im Bundesland. Durch Projektförderungen des Landes, der EU, der UNO-Flüchtlingshilfe, des BMFSJF, der Diakonie, und der Aktion Mensch, terre des hommes und amnesty international, werden mit inzwischen 7,4 Therapeutenstellen und 3 Sozialberatungsstellen Menschen ab 5 Jahren unabhängig vom Aufenthaltsstatus begleitet. Sie kommen aus Afghanistan, Syrien, Tschetschenien und weiteren über 30 Ländern.
Der Fachtag wurde von Klaus Roth, Geschäftsführer der Projektträgerin St. Johannis GmbH (Tochtergesellschaft der Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis in Bernburg), und Susi Möbbeck, Staatsekretärin und Integrationsbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalt, eingeleitet. Beide betonten die beeindruckende Entwicklung des PSZ und seine nicht abnehmende Wichtigkeit in der Versorgungslandschaft und gaben Anlass zur Zuversicht.
Programm des Fachtags
Moderiert wurde der Tag von den beiden Hauptorganisierenden Uwe Kreusel, Psychologe und Bildungsreferent, und Magdalene Schlenker, Kulturwissenschaftlerin und Projektleitung. An die Grußworte anschließend präsentierten die von Anfang an dabei gewesene Psychologin Manuela Mosch vom Standort Halle und die seit fast 10 Jahren am Standort Magdeburg tätige Traumatherapeutin und Standortleitung Saadet Ismayil eine Rückschau auf 15 Jahre PSZ.
Die Angebote psychologische Begleitung und psychotherapeutische Behandlung umfassen Stabilisierung, Ressourcen-Arbeit, Körpertherapie, Entspannung, Traumatherapie, Trauerarbeit und vieles mehr. Darüber hinaus werden psychologische Diagnostik und psychologische Stellungnahmen erstellt. Therapeutische und niedrigschwellige Gruppenangebote, vor allem aber die angegliederte Sozialberatung gehören zum PSZ, das einen sprachmittlungsgestützten und interkulturell sensibler Ansatz im Zusammenspiel von verschiedenen fachlichen Kompetenzen und Methoden zur umfassenden Unterstützung der Klient*innen anwendet. Das Fortbildungsangebot und der jährliche Fachtag für im Integrationsbereich und im Gesundheitssystem Tätige vertiefen Themen wie den sensiblen Umgang mit unbegleitet geflüchteten Minderjährigen, transkulturelle Gesundheits- und Krankheitsverständnisse, Selbstfürsorge und Arbeit mit Sprachmittlung.
Weitere Arbeitsbereiche liegen in der Kooperation mit Forschungsinstituten und in lokalen, bundesweiten oder internationalen Kooperationsprojekten zur interkulturellen Öffnung der Regelversorgung. Auf über 30 öffentlichen Veranstaltungen informierten Mitarbeitende und Referierende zur Arbeit des PSZ, zu Fluchtursachen und anderen menschenrechtlich relevanten Themen.
Eine Studie über die Unterversorgungslage in Halle stellte Dr. Amand Führer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) für das Jahr 2015 vor: Während in einer Querschnittsstudie mehr als die Hälfte der 214 Studienteilnehmenden für Depressionen positiv gescreent wurden, erhielt nur jede vierzigste asylsuchende Person vom Gesundheitssystem die Diagnose Depression. Angststörungen wurden bei gut 40 % gefunden, aber im System nur bei 1,4 Prozent und bei der Posttraumatischen Belastungsstörung waren es 18 zu knapp 3 Prozent. Knapp die Hälfte dieser wenigen Patient*innen bekam trotz Diagnose überhaupt keine Therapie, während bei denjenigen, die eine Therapie bekamen, diese sich meist auf eine alleinige medikamentöse Therapie beschränkte. Nur ein einziger Patient (0,5%) erhielt eine Psychotherapie.
Nach diesen alarmierenden Zahlen erhellte Barbara Abdallah-Steinkopf, eine Koryphäe in der transkulturellen Psychotherapie, das Publikum mit ihren Erfahrungen und Einsichten aus der therapeutischen Arbeit. So unterschied sie abstrahierend zwischen einer hier breiter verwurzelten „independenten“, also unabhängigen, individuellen Selbstsicht, gegenüber dem „interdependenten“, also dem verbundenen, kollektiven Selbstverständnis in den meisten anderen Herkunftskulturen und deckte viele Missverständnisse auf, die Therapierende und Therapierte haben miteinander können.
Am Nachmittag konnten die Gäste in vier Workshops mit PSZ-Mitarbeitenden weiter an wichtigen Themen arbeiten: Mit Sozialberater Martin Kampa und Projektleiterin Magdalene Schlenker wurde verschiedene Rechtsansprüche und nach Aufenthaltsstatus zuständige Leistungs- bzw. Kostenträger und Zugangshindernisse zusammengetragen. Hierfür konnte eine erarbeitete Übersichtstabelle diskutiert werden, die nun in Fachkreisen verbreitet werden kann. Die Herausforderungen der Sprachbarriere und Überwindungsmöglichkeiten wurden mit der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ekaterina Marynich und der Sozialberaterin Inna Margoulis, die gerade auch die Standortleitung für Halle übernommen hat, erläutert. Von deren Vorgängerin als Standortleitung, Lena Graf, die sich gerade als psychologische Psychotherapeutin in Halle niedergelassen hat, sowie den Kolleg*innen Frau Mosch und Mareike Wagner wurden mögliche Übertragungseffekte und Maßnahmen der Selbstfürsorge in der Arbeit mit psychisch Erkrankten thematisiert. Allgemeine Fragen zum PSZ wurden von der psychologischen Psychotherapeutin Marija Skopinceva, der Sozialpädagogin Cindy Adler und der Verwaltungsmitarbeiterin Olga Shikula und Emma Kohler beantwortet.
Auf dem von der Illustratorin Simone Fass mitgezeichneten Abschlussplenum wurden eingereichte Beiträge der Teilnehmenden zu Herausforderungen, Gelungenem und Verbesserungsvorschlägen und die Workshopergebnisse zusammengetragen. Den Tag beschließend leitete Stiftungsvorstandsmitglied Anna Manser, systemische Therapeutin und Leiterin der Halleschen Jugendwerkstatt, mit ihren Eindrücken vom Tag und viel Wertschätzung für die PSZ-Mitarbeitenden zum feierlichen Abschluss mit dem Duo Parwaneh über. Der iranische Musiker und Komponist Vahid Shahidifar und die deutsche Liedermacherin Ina Friebe spielten für die Gäste bei Kuchen und alkoholfreiem Sekt Kompositionen verschiedenster Herkunft.
Wie geht es weiter?
Ergebnisse und Erfordernisse für die nächsten 15 Jahre
Betont wurde von den Teilnehmenden und Veranstaltenden, dass die rechtlichen Versorgungsansprüche gemeinsam politisch stärker eingefordert werden müssen. Die Zusammenarbeit zwischen Aufnahmeeinrichtungen und den zuständigen Praxen, Kliniken und Diensten sollte festgelegt und klar geregelt werden – wie auch die im psychischen Bereich immer notwendige Sprachmittlungsleistung bzw. Übersetzung. Hierfür muss die Kostenübernahme im Gesundheitssystem verankert werden, was auch die Bundespsychotherapeutenkammer zusammen mit der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) e.V. fordert. im Bürokratische Hürden sollen verringert, präventive und niedrigschwellige Angebote ausgebaut, Trauma- und interkulturelle Kompetenzen durch Fortbildungen erhöht werden.